Preisträger hat die Sprache entdeckt, in der Darmbakterien unser Immunsystem erziehen
Der Arzt und Immunologe Dennis L. Kasper (80) von der Harvard Medical School erhält den Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Preis 2024. Das gab der Stiftungsrat der Paul Ehrlich-Stiftung heute bekannt. Kasper hat die bisher einzig bekannten Wörter der biochemischen Sprache entdeckt, mit der Bakterien, die unseren Darm bevölkern, unser Immunsystem erziehen und damit für dessen gesunde Entwicklung sorgen. Dadurch hat der Preisträger ein neues und dynamisches Forschungsfeld eröffnet, auf dem sich bereits konkrete Ansatzpunkte für die Behandlung schwerer Autoimmunkrankheiten abzeichnen.
FRANKFURT. Im
Dickdarm jedes Menschen leben rund zehn Billionen Bakterien. Sie machen den
Großteil unseres Mikrobioms aus, also aller Mikroorganismen, die auf unserer
Haut und in unseren Körperhöhlen siedeln. Dass diese Bakterien nicht nur
schädlich, sondern auch nützlich sind, haben die biomedizinischen
Wissenschaften seit der Analyse von Antibiotika-Nebenwirkungen in den 1960er
Jahren allmählich erkannt. Wie sie aber insbesondere dem Immunsystem ihrer
Wirte nützliche Botschaften mitteilen, blieb lange ein Rätsel. Dennis Kasper
hat es am Beispiel des Bakteriums Bacteroides fragilis gelöst. Er
entdeckte zwei besondere Moleküle, mit deren Hilfe diese Darmmikrobe das
Immunsystem ihrer Wirte dazu erzieht, maßvoll zu agieren und den eigenen Körper
nicht anzugreifen. „Dem Preisträger ist es als Erstem gelungen,
Kommunikationskanäle in dem Superorganismus aufzudecken, den der Mensch und
sein Mikrobiom bilden“, erklärt der Vorsitzende des Stiftungsrates, Prof. Dr.
Thomas Boehm. „Durch ihn haben wir erfahren, mit welchen Signalen Darmbakterien
in unserem Immunsystem für eine gesunde Balance zwischen Angriffslust und
Entzündungsdämpfung sorgen. Das wird weitreichende klinische Konsequenzen
haben.“
B. fragilis ist eine Bakterienart, die unseren Darm
nach unserer Geburt besonders früh und zahlreich besiedelt. Dennis Kasper
begann sich Mitte der 1970er Jahre mit ihr zu beschäftigen, weil sie bei
Infektionen des normalerweise sterilen Bauchraumes infolge von Verletzungen
wegen ihrer Penicillinresistenz eine oft fatale Hauptrolle spielt. Innerhalb
des Darmes ist B. fragilis aber kein Krankheitserreger. Manche
Bakterien schützen sich vor ihrer Umgebung durch die Ausbildung einer Kapsel.
Diese Kapsel zeichnet sich bei B. fragilis, wie Kasper herausfand, durch
eine außergewöhnliche Variabilität aus. Während die meisten Bakterien ihre
Kapsel nur mit einem Vielfachzucker (Polysaccharid) bestücken, kann B.
fragilis acht verschiedene produzieren und zu immer neuen Mustern
kombinieren. So erscheint es dem Immunsystem seines Wirtes in ständig
wechselnden Gewändern, entzieht sich dessen Zugriff und kann es damit gut
getarnt beeinflussen. Zu diesem Zweck setzt B. fragilis in erster Linie
den am häufigsten vorkommenden dieser Kapselzucker ein, dem Kasper den Namen
PSA gab. In diesem sehr großen Molekül sind bis zu 200 Einheiten von je vier
verschiedenen Zuckern miteinander verknüpft, und mit einem fettähnlichen Anker
in der Membran befestigt. Kasper entdeckte, dass dendritische Zellen, die als
„Wächterzellen“ das Immunsystem über den Zustand des Körpers informieren, den
Zucker aufnehmen, verarbeiten und auf ihrer Oberfläche ausstellen, womit sie
die Produktion bestimmter T-Zellen stimulieren.
Für diesen sogenannten MHC-II-Weg der Antigen-Präsentation galt in
der Immunologie: Er ist für fremde, von außen eingedrungene Proteine und deren
Bekämpfung reserviert. Mit seiner fundamentalen Entdeckung brach Kasper dieses
Dogma. Er zeigte, dass der Bakterienzucker über den MHC-II-Weg für ein
Gleichgewicht zwischen verschiedenen Arten von T-Zellen sorgt, so dass auch die
Entwicklung immunrelevanter Organe wie der Milz koordiniert abläuft. PSA kann
dendritische Zellen außerdem so programmieren, dass sie regulatorische T-Zellen
dazu anregen, Interleukin-10 zu produzieren, eines der wichtigsten
anti-entzündlichen Botenstoffe des Immunsystems. Der Preisträger hat dabei im
Detail entschlüsselt, über welche Signalwege PSA diese Wirkung entfaltet.
Während B. fragilis mit dem Polysaccharid PSA lebenslang
die Ausreifung einer ausbalancierten Population von regulatorischen T-Zellen in
seinem Wirtsorganismus steuert, greift es mit einem anderen Molekül nur für
eine kurze Zeit, aber dennoch wirkungsvoll in die Entwicklung des Immunsystems
ein. Dabei handelt es sich, wie Kasper belegte, um eine bestimmte fettartige
Substanz, das Glykosphingolipid GSL-Bf717. In den Wochen und Monaten nach
unserer Geburt hemmt dieses bakterielle Lipid die Vermehrung von natürlichen
Killer-T-Zellen (NKT-Zellen). Das sind T-Zellen, die Elemente von angeborener
und erworbener Immunität in sich vereinen, und das Immunsystem zu
überschießenden Entzündungsreaktionen und Angriffen auf den eigenen Körper
verleiten können. Weil es strukturelle Ähnlichkeit mit Molekülen hat, die die
NKT-Vermehrung fördern, verdrängt das bakterielle Lipid viele dieser Moleküle
von ihrer Bindungsstelle und verhindert damit die Entstehung eines übergroßen
NKT-Pools. Erwachsene Mäuse, die als Neugeborene dem bakteriellen Sphingolipid
ausgesetzt waren, haben ein deutlich geringeres Risiko, eine Autoimmunkrankheit
wie etwa eine Colitis ulcerosa zu erleiden.
Dank der jahrzehntelangen beharrlichen Arbeit von Dennis Kasper
können Zusammenhänge zwischen Darmmikrobiom und Immunsystem erstmals kausal und
nicht mehr nur assoziativ hergestellt werden. Die anti-entzündliche Wirkung der
von ihm entdeckten „B. fragilis-Wörter“ ist nicht lokal auf den Darm
begrenzt. Sie zeigt sich auch systemisch. GSL-Bf717 beugt nicht nur chronischen
Darmentzündungen vor, sondern auch allergisch bedingten Krankheiten wie Asthma.
Das Potential von PSA wiederum hat die Erforschung der Signalachse zwischen
Darm und Hirn beflügelt. So gibt es überzeugende Hinweise, dass dieser
bakterielle Zucker der Zersetzung der Myelinhüllen von Nervenfasern bei
experimenteller Multipler Sklerose (MS) entgegenwirkt.
Dennis L. Kasper (Labor-Homepage) ist seit 1989 William Ellery Channing Professor of Medicine und seit
1997 Professor of Immunology an der Harvard Medical School. Er ist Mitherausgeber von Harrison's
Principles of Internal Medicine (derzeit 22. Auflage), dem weltweit am
häufigsten verwendeten Lehrbuch der Medizin, dessen Chefredakteur er für die
16. und 19. Auflage war.
Fotos
des Preisträgers sind unter www.paul-ehrlich-stiftung.de zur Verwendung
hinterlegt.
Eine
ausführliche Hintergrundinformation unter dem Titel „Lektionen aus dem Bauch
heraus“ finden Sie hier: https://tinygu.de/PELD24h
Der
Preis wird am 14. März 2024 um 17 Uhr vom Vorsitzenden des Stiftungsrates der
Paul Ehrlich-Stiftung in der Frankfurter Paulskirche verliehen. Wir bitten Sie,
dies bei Ihrer Terminplanung zu berücksichtigen. Für Rückfragen stehen wir
gerne zur Verfügung.
Weitere Informationen
Pressestelle
Paul Ehrlich-Stiftung
Joachim Pietzsch
Tel.: +49 (0)69 36007188
E-Mail: j.pietzsch@wissenswort.com
www.paul-ehrlich-stiftung.de
Redaktion: Joachim
Pietzsch / Dr. Markus Bernards, Referent für
Wissenschaftskommunikation, Büro für PR & Kommunikation, Telefon 069 798-12498, Fax 069 798-763-12531, bernards@em.uni-frankfurt.de