Warum machen wir das

Und warum das Ganze?

Das Thema Gesundheit hat in den letzten Jahren innerhalb wissenschaftlicher Disziplinen sowie in der öffentlichen Diskussion zunehmend einen immer größeren Stellenwert gewonnen. Dabei fokussiert sich der Gesundheitsdiskurs heute in der Regel auf spezifische Optimierungsabsichten und damit zusammenhängende Maßnahmen sowie Techniken. Weniger Rauchen, weniger Trinken (Alkohol), weniger Stress, mehr Bewegung oder gesündere Ernährung, lauten die big-five, die in nahezu jeder gesundheitsbezogenen Maßnahme wieder zu finden sind (vgl. Stroß, 2018; e.g., Thees et al., 2012).
So ist es auch nicht verwunderlich, dass betriebliche Gesundheitsmanagements (BGM) motiviert durch wirtschaftliche Interessen bereits seit längerem für die Bediensteten in diesen Punkten positive Entwicklungen vorweisen können (e.g., Holm, 2018). Kontrastiert man demgegenüber das gesundheitsbezogene Engagement für Studierende, so steckt jenes noch in den Kinderschuhen. Die ersten Bemühungen hinsichtlich gesundheitsbezogener Projekte für Studierende stellen allerdings auch das Kriterium der Optimierung in den Mittelpunkt. Bisherigen Programmen liegt oftmals der (unhinterfragte) Auftrag zu Grunde, die einzelnen Studierenden zu mehr Gesundheit zu führen.
Diverse Analysen und Forschungsergebnisse untermauern diese Annahme mit ihren Erkenntnissen zu Risikofaktoren und Belastungen im Studium (e.g., Grützmacher et al., 2018). Auch an der Goethe-Universität deutet sich an, dass die Studierenden erheblichen gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt sind (vgl. Hindelang et al., 2020). So meldet unter anderem die Psychotherapeutische Beratungsstelle der Goethe-Universität, dass sich der Beratungsbedarf der Studierenden durch die Corona-Krise nochmals erheblich verschärft hat. Die repräsentative, deutschlandweite Erhebung zur Gesundheit Studierender aus dem Jahr 2017 zeigt, dass rund 15% der teilnehmenden Studierenden an einem depressiven Syndrom litt sowie ungefähr 24 % ein hohes Burnout-Erleben in der Dimension Erschöpfung sowie rund 23 % in der Dimension Bedeutungsverlust empfand (Grützmacher et al., 2018, S. 42f./60f.). In einem studentisch-geführten Forschungsprojekt an der Goethe-Universität im Wintersemester 19/20 äußerten 17,5 % der Sportstudierenden unter Symptomen einer klinischen Depression zu leiden (Hindelang et al., 2020, S. 39fff.).
Weiterhin wird an vielen Stellen insbesondere die Bologna-Reform als Strukturveränderung des Studierens mit negativen Auswirkungen auf die psychosoziale Gesundheit von Studierenden moniert und dies unter anderem mit schwächeren Leistungen derer in Zusammenhang gebracht (e.g., Thees et al., 2012). Dass jedoch gerade diese Leistungsorientierung treibende Kraft für die epidemiologisch identifizierten gesundheitlichen Probleme ist, wird in der Regel verkannt (vgl. Dietz & Dresen, 2015).

Um dem zu entgegnen, lassen wir uns von einer unverbindlichen Haltung leiten, die eine strukturelle Dogmatik in gesundheitsbezogenen Themenfeldern ablehnt. Diese Entscheidung fußt auf der Einsicht, dass das grundlegende Gesundheitsverständnis der Weltgesundheitsorganisation, welches Gesundheit als einen „[…] Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens […]“ (WHO, 2020) festlegt, teilweise erheblich von einigen wissenschaftlichen Verständnissen von Gesundheit abweicht (vgl. Franke, 2012). Statt uns auf eine Definition von Gesundheit festlegen zu lassen, möchten wir für die Vielfältigkeit von Gesundheitsverständnissen plädieren (vgl. Lafaille, 1995; Stroß, 2009). Dies trägt unter anderem der pluralen Forschungs- und Disziplinen-Landschaft der Goethe-Universität Rechnung und ermöglicht einen wirklich ganzheitlichen Blick auf Gesundheit. Mit einem nicht festgelegten Gesundheitsbegriff bleibt das Projekt hinsichtlich Maßnahmen und Handlungsstrategien sehr agil und beweglich. Mit jener Ausrichtung kann sich unter anderem folgenden Fragen genähert werden:

  • An welche herrschende Leistungs-/ Optimierungsnormen wird sich mit einem Gesundheitsstreben angepasst? (vgl. Gawatz & Novak, 1993, S.21)
  • Werden durch ein Gesundheitsstreben existenzielle Krisenerfahrungen in Krankheit ausgeblendet? (vgl. Gadamer, 1993, S.145f.)
  • Lässt sich Gesundheit messen und berichten? (vgl. Horn, 2002, S.142)
  • Gibt es ein biopsychosoziales Gleichgewicht und woher stammt dies? (vgl. Faltermaier, 2016, S.229fff.)

In den beiden ersten Fragen drückt sich eine kritische Sichtweise auf Gesundheit und Krankheit aus, die unter anderem gesellschaftliche und soziale Probleme eines naturwissenschaftlichen Gesundheitsverständnisses problematisiert. Die beiden letztgenannten Perspektiven haben hingegen den gemeinsamen Ausgangspunkt, dass Gesundheit grundsätzlich proaktiv durch jede*n individuell zu jedem lebensgeschichtlichen Zeitpunkt hergestellt werden könnte. Diese Sichtweise transportiert ferner eine starke Rückbindung an die Eigenverantwortlichkeit sowie die potenzielle Wirksamkeit gesundheitsbezogenen Verhaltens.
Es zeigt sich, dass ein multiperspektivischer Zugang in den Themenkomplex Gesundheit sehr umfassende Möglichkeiten bietet, aber zugleich die Herausforderung schafft, Widersprüchen innovativ zu begegnen. Hierin gilt es eine Balance zu finden, um die Ziele des Projekts zu verfolgen und prozessual weiter zu entwickeln.

Um zu identifizieren, was Gesundes Studieren bedeutet bzw. ausmacht und welchen Herausforderungen sich im Konkreten gestellt werden muss, werden folgende Ziele formuliert.

  1. Erarbeiten von verschiedenen Handlungsoptionen der strukturellen Gesundheitsförderung sowie intervenierender Prävention für die Studierenden der Goethe-Universität
  2. Erhöhung der Sichtbarkeit des Themas, positive Entwicklung des Gesundheitsdiskurses und Ermöglichen einer breiten Diskussionslandschaft sowie die politische Durchdringung der Hochschulstrukturen
  3.  Entwicklung und Implementierung einer strategischen Weiterentwicklung von Gesundheitsförderung im Setting Hochschule
  4. Erarbeiten und Etablieren von gesundheitsfördernden Strukturen, um die Struktur der Universität sowie des Studiums weiterzuentwickeln
  5. Erhebung eigener Gesundheitsdaten mit dem Zweck einer fundierten Situationsanalyse und Entwicklung sowie Umsetzung konkreter gesundheitsfördernder sowie -bildender Maßnahmen und Strukturen unter Berücksichtigung bereits vorhandener Analysen und aktuellen Innovationen in der Gesundheitserhebung und –berichterstattung
  6. Transfer in Partnereinrichtungen aus Wirtschaft, öffentlichen Sektor, Zivilgesellschaft, Stiftungslandschaft und Kultur, um der sogenannten Third Mission, welcher sich die Goethe-Universität als Bürger*innenuniversität der Stadt Frankfurt verpflichtet hat, gerecht zu werden.

Ein wichtiger Ansatz in der Umsetzung wird sein, flexibel in der Planung, Umsetzung und Reflexion zu sein - sowohl in Hinblick auf die Bedarfe der Zielgruppe und der sich daraus ableitenden Verantwortung, als auch im Hinblick auf Planung und Umsetzungsmöglichkeiten von Prozessen mit den jeweiligen Entscheidungs-träger*innen und Multiplikator*innen.
Die oben genannten Ziele sind prozessorientiert formuliert und werden ständig reflektiert. Neben den genannten Kernzielen werden im Fortlauf methodische Ziele erarbeitet, um die Kernziele zu erreichen. Diese können im Einzelnen, isoliert betrachtet, auch einer anderen Ausrichtung folgen, ohne grundsätzlich die Orientierung des Projekts zu verändern.


Literatur

Dietz, P. & Dresen, A. (2015). Medikamentenmissbrauch an deutschen Hochschulen als Ausdruck einer Leistungsgesellschaft. In A. Göring & D. Möllenbeck (Hg.), Hochschulsport. Bewegungsorientierte Gesundheitsförderung an Hochschulen (S. 9–20). Univ.-Verl. Göttingen.

Faltermaier, T. (2016). Laienperspektiven auf Gesundheit und Krankheit. In M. Richter & K. Hurrelmann (Hg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit (1. Aufl., S. 229–242). Springer Fachmedien Wiesbaden; Imprint: Springer VS.

Franke, A. (2012). Modelle von Gesundheit und Krankheit (3., überarbeitete Auflage). Verlag Hans Huber. http://elibrary.hogrefe.de/book/99.110005/9783456951201

Gadamer, H.‑G. (1993). Über die Verborgenheit der Gesundheit: Aufsätze und Vorträge. Suhrkamp.

Gawatz, R. & Novak, P. (Hg.). (1993). Soziale Konstruktionen von Gesundheit.: Wissenschaftliche und alltagspraktische Gesundheitskonzepte. Göpel, E. (Hg.). (1995). Provokationen zur Gesundheit: Beiträge zu einem reflexiven Verständnis von Gesundheit und Krankheit; [dieses Buch ist im Rahmen des Landesinstitutes für Schule und Weiterbildung … entstanden (2. Aufl.). Mabuse-Verl.

Göring, A. & Möllenbeck, D. (Hg.). (2015). Hochschulsport. Bewegungsorientierte Gesundheitsförderung an Hochschulen. Univ.-Verl. Göttingen.

Grützmacher, J., Gusy, B., Lesener, T., Sudheimer, S. & Willige, J. (2018). Gesundheit Studierender in Deutschland 2017: Ein Kooperationsprojekt zwischen dem Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung, der Freien Universität Berlin und der Techniker Krankenkasse.

Hindelang, V., Kliewer, J. & Polland, A. (2020). Projektbericht Studentische GesundheitsBildung: (unveröffentlicht).

Holm, T. (2018). Gesundheitsförderliche Studienbedingungen als Wettbewerbsfaktor. Gesundheitsmanagement für Studierende - Beilage zur duz - Deutsche Universitätszeitung, Artikel 1, 3.

Horn, C. (2002). Krankheit. In O. Höffe (Hg.), Lexikon der Ethik.

Lafaille, R. (1995). Auf dem Weg zu einer Gründung der Gesundheitswissenschaften: Möglichkeiten, Herausforderungen, Fallstricke. In E. Göpel (Hg.), Provokationen zur Gesundheit: Beiträge zu einem reflexiven Verständnis von Gesundheit und Krankheit; [dieses Buch ist im Rahmen des Landesinstitutes für Schule und Weiterbildung … entstanden (2. Aufl.). Mabuse-Verl.

Richter, M. & Hurrelmann, K [Klaus] (Hg.). (2016). Soziologie von Gesundheit und Krankheit (1. Aufl. 2016). Springer Fachmedien Wiesbaden; Imprint: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-11010-9

Stroß, A. M. (2009). Reflexive Gesundheitspädagogik: Interdisziplinäre Zugänge - erziehungswissenschaftliche Perspektiven. Qualitätssicherung in Erziehungswissenschaft und pädagogischen Feldern: Bd. 3. Lit.

Stroß, A. M. (2018). Gesundheit und Bildung: Reflexionsansprüche und Professionalisierungsperspektiven. Springer Fachmedien Wiesbaden. http://dx.doi.org/10.1007/978-3-658-16582-6 https://doi.org/10.1007/978-3- 658-16582-6

Thees, S., Gobel, J., Jose, G., Bohrhardt, R. & Esch, T. (2012). Die Gesundheit von Studierenden im BolognaProzess. Prävention und Gesundheitsförderung, 7(3), 196–202. https://doi.org/10.1007/s11553-012-0338-1

WHO - Weltgesundheitsorganisation. (2020). Verfassung der Weltgesundheits-organisation (1946). https://www.bundespublikationen.admin.ch/cshop_mimes_bbl/14/1402EC7524F81EDAB689B20597E1A5DE.PDF