Interview: Für eine kritische Solidarität mit Äthiopien

Fragen an Negasso Gidada, Gastprofessor und früherer äthiopischer Staatspräsident

Veröffentlicht am: Dienstag, 03. Juli 2012, 16:13 Uhr (034)

Prominenter Besucher und Wiedersehen mit einem Alumnus: Dr. Negasso Gidada war im Mai und Juni Gastprofessor an der Goethe- Universität. Er folgte einer Einladung des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ und des Frobenius-Instituts. An der ethnologischen Forschungseinrichtung hatte Gidada im Jahr 1984 promoviert. Später war er für einige Jahre Direktor des Dritte Welt Zentrums in Frankfurt. Nach dem Sturz der Militärdiktatur kehrte der Ethnologe und Historiker 1991 in sein Heimatland zurück, war Leiter der Verfassungsversammlung und von 1995 bis 2001 Staatspräsident. Aus Protest gegen die Regierungspolitik ging Gidada in die Opposition.

Herr Dr. Gidada, Sie sind Wissenschaftler und Politiker. Können Sie den Studierenden eine ganz besondere Perspektive nahebringen?

Ich habe mich bei meiner Rückkehr nach Äthiopien auf die Politik konzentriert und konnte die Wissenschaft nicht mehr so intensiv betreiben. Aber ich versuche in der Tat, meine politischen Erfahrungen mit wissenschaftlicher Theorie, mit der Ethnologie zu verbinden. Ich möchte, dass die Studierenden in der Ethnizität, also der Zugehörigkeit oder empfundenen Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe, nicht bloß ein Konzept sehen. Ethnizität hat auch etwas mit Politik zu tun. Und ich versuche, den Studierenden zu zeigen, wie sich Ethnizität auswirkt.

Würden Sie Frankfurt als Ihre wissenschaftliche Heimat bezeichnen?

Sehen Sie, ich bin 1974 nach Frankfurt gekommen, um hier zu studieren. Ich habe hier viele Freunde gefunden. Frankfurt sehe ich als meine zweite Heimat. Ich habe 17 Jahre hier gelebt. Das ist nicht wenig. Ich habe hier Wurzeln.

Wie sind Sie damals an die Goethe-Universität und das Frobenius-Institut gekommen?

Ich habe in Äthiopien Geschichtswissenschaften studiert. Und in den 70er Jahren ist in Äthiopien die Idee entstanden, dass man die Geschichte der Völker, die keine schriftlichen Überlieferungen haben, aufschreibt. Mein spezielles Interesse galt der Geschichte des Oromo-Volkes. Ich habe dann ein Stipendium des ökumenischen Studienwerks der evangelischen Kirche in Deutschland bekommen, die mit der evangelischen Kirche in Äthiopien kooperiert, und wollte sehr gerne bei Professor Haberland studieren.

Er war von 1968 bis 1992 Direktor des Frobenius-Instituts, einer seiner Forschungsschwerpunkte galt Äthiopien.

Und er hat auch ein wichtiges Buch über SüdÄthiopien geschrieben und sich darin auch viel mit den Oromo beschäftigt.

Äthiopien gehört mit gut 80 Millionen Einwohnern zu den größten Ländern Afrikas. Dennoch hört man hier nicht sehr viel darüber. Woran könnte das liegen?

Zum einen gibt es gute Beziehungen zwischen Deutschland und Äthiopien, das viel Entwicklungshilfe von Deutschland bekommt. Von Regierungsseite aus wird hier über Äthiopien nicht berichtet. Zum anderen berichten die Medien – nicht nur in Deutschland, sondern auch international – vorrangig, wenn dramatische Sachen passieren, wie zum Beispiel in Libyen oder in Syrien. Solche dramatischen Ereignisse haben in Äthiopien nicht stattgefunden.

In Ihrem Heimatland gibt es rund 80 Volksgruppen. Die beiden größten sind die Oromo (35 Prozent) und die Amhara (27 Prozent). Worin bestehen die größten Herausforderungen im Zusammenleben der verschiedenen Ethnien?

Es gibt beispielsweise eine gewisse Skepsis auf Seiten der Oromo und anderer südäthiopischer Völker gegenüber den Amhara. Nicht das Amhara-Volk als solches, aber die herrschende Klasse der Amhara war bis 1991 dominant – kulturell, politisch und wirtschaftlich. Auch heutzutage gibt es noch eine Angst unter den südlichen Völkern, dass diese herrschende Klasse der Amhara noch einmal die Macht ergreifen könnte.

Wie könnte man den Spannungen zwischen den Ethnien begegnen?

Ein Weg wäre es vielleicht, wenn die ethnische Frage nicht politisiert würde. Äthiopien hat eine föderalistische Struktur, das Land ist eine Bundesrepublik – aber nicht so wie in Deutschland, wo es ein Volk und verschiedene Bundesländer gibt. In Äthiopien haben die Ethnien eigene Territorien, und wer dort als Angehöriger einer ethnischen Minderheit lebt, hat es sehr schwer. Das betrifft auch einfache Bauern des Amhara-Volkes, denen man sagt, sie sollten in „ihr Land“ zurückgehen. Wenn man die föderalistische Struktur beibehält, müsste man zumindest den Minderheitenschutz deutlich stärken.

Der äthiopische Premierminister Meles Zenawi gehört dem Volk der Tigray an. Das stellt aber nur rund sechs Prozent der äthiopischen Bevölkerung.

Meles Zenawi gehört zu den Gründern der Tigray People’s Liberation Front (TPLF), deren Vorsitzender er heute ist. Die TPLF war bereits sehr gut organisiert und personell gut ausgestattet, als sie 1991 nach dem Sturz der Militärdiktatur zusammen mit anderen Parteien die Macht übernahm. Nach und nach haben dann TPLF-Mitglieder und andere Angehörige des Tigray-Volkes die Vormachtstellung der TPLF im Staat dazu benutzt, wichtige Stellen in der Verwaltung und der Wirtschaft zu besetzen. Und es gelingt dem regierenden Wahlbündnis auch immer wieder, verschiedenen Ethnien den Eindruck zu vermitteln, dass die TPLF für deren Sicherheit und Eigenständigkeit unverzichtbar ist.

Ausländische Beobachter sprechen seit Jahren von einem „offensichtlichen Demokratiedefizit“ in Äthiopien (NeueZürcher Zeitung). Was kann der Westen für eine Demokratisierung Äthiopiens tun?

Es gibt ja die so genannte „silent diplomacy“. Das ist, was der Westen versucht. Wir haben aber gesehen, dass das bis jetzt nichts genutzt hat. Der Westen muss wissen, was er tut. Jedoch werden die hohen Entwicklungshilfezahlungen ja aus Steuergeldern finanziert. Sie fragten mich, warum man in Deutschland so wenig über Äthiopien hört. Vielleicht sollten die Deutschen, die deutschen Medien, ja einmal genauer hinschauen, in welchem Land ihre Steuergelder als Entwicklungshilfe eingesetzt werden. Ich bin für das Prinzip der kritischen Solidarität – kooperieren, aber offen sein und auch Kritik üben und eine Änderung verlangen. Das ist meine Haltung.

Das Interview führte Bernd Frye.

Das Interview ist in der Ausgabe 4-2012 des UniReport erschienen.