Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Preisträger 2023

Beschützt von einem gezähmten Parasiten

Wie ist es möglich, dass wir Wirbeltiere uns gegen alle möglichen Bakterien und Viren verteidigen können? Wie gelingt es unserem Immunsystem, mit begrenzten Mitteln genügend Antikörper herzustellen, um einer Armada von Angreifern zu trotzen, die chemische Strukturen von nahezu unbegrenzter Vielfalt ausbilden? Wie können wir mit unseren 20.000 Genen ausreichend viele Proteine zur Abwehr von Milliarden verschiedenen Angreifern produzieren? Dieses große Rätsel der Immunologie wurde vor fast 50 Jahren gelöst – jedenfalls im Prinzip: Indem aus wenigen hundert Genabschnitten zufällig immer wieder andere ausgeschnitten und in jeweils neuer Kombination zu funktionsfähigen Genen zusammengesetzt werden, die für die variablen Anteile von Antikörpern codieren. Dieser variable Anteil an den beiden oberen Enden eines Y-förmigen Antikörpers bestimmt, welches Antigen er wie eine Zange umgreifen kann. Die Frage, wie diese sogenannte somatische Rekombination funktioniert, wie die einzelnen Genabschnitte erkannt und wieder zusammengefügt werden, war damit aber noch nicht beantwortet. Dass wir sie heute weitgehend beantworten können, ist ganz wesentlich der Leistung der beiden Preisträger zu verdanken.


Als Frederick Alt 1977 seine Arbeit als Postdoc im Labor von David Baltimore am Massachusetts Institute of Technology (MIT) begann, war der erste experimentelle Beweis, dass Antikörper die Gene für ihre variablen Regionen durch Rekombination bestimmter DNA-Sequenzen zusammensetzen, gerade erst gelungen. Susumu Tonegawa hatte ihn am Basel Institute for Immunology erbracht und 1976 publiziert. Mit Hilfe der 1973 erfundenen Gentechnik konnten Tonegawa und andere diesen initialen Befund im Lauf der folgenden fünf Jahre zu folgender Skizze erweitern: Heranreifende B-Zellen fügen die variablen Regionen von Antikörpern durch zufällige Kombination aus den Gensegmenten V (für variable) D (für diversity) und J (für joining) zusammen. Diese wenigen hundert Segmente sind für die schwere Antikörperkette auf dem Chromosom 14, für die beiden leichten Antikörperketten auf den Chromosomen 2 und 22 verstreut. Jedes dieser Segmente grenzt an eine Rekombinations-Signalsequenz (RSS). Eine solche RSS besteht aus zwei sieben und neun DNA-Buchstaben langen Stücken, in deren Mitte entweder ein 12 oder 23 DNA-Buchstaben langer Platzhalter sitzt. Der Unterschied von 12 und 23 Buchstaben bzw. Basen entspricht in etwa einer Umdrehung der Doppelhelix. Neben den RSS werden die neu zu kombinierenden Segmente aus den jeweiligen V-, D- und J-Bibliotheken ausgeschnitten. Gemäß der 12/23-Regel können zwei Gensegmente nur dann zusammengefügt werden, wenn ihre benachbarten RSS verschieden lange Platzhalter besitzen. Die leichten Antikörperketten verknüpfen im Gegensatz zur schweren nur V und J-Segmente miteinander, weshalb man von V(D)J-Rekombination spricht.

Ein Zentrum der immunologischen Forschung
Die schwere Antikörperkette wird vor den leichten Ketten rekombiniert. Dabei werden immer erst DJ-Einheiten geschaffen, die danach mit einem V-Segment verknüpft werden. Diese Erkenntnisse wurden in Forschungsarbeiten in der ersten Hälfte der 1980er Jahre publiziert, an denen Tonegawa nur noch partiell beteiligt war. Ihr Erstautor war Frederick Alt. Tonegawa war inzwischen ans MIT gewechselt, hatte sich dort aber zunehmend neurowissenschaftlichen Fragestellungen zugewandt. Für seine Entdeckung „des genetischen Prinzips der Erzeugung der Antikörper-Diversität“ wurde ihm 1987 der Medizinnobelpreis zugesprochen.

Frederick Alt und andere Postdocs von David Baltimore hatten dessen Labor inzwischen zu einem führenden Zentrum der immunologischen Forschung ausgebaut. Baltimore hatte das Enzym entdeckt, das RNA in DNA umschreibt, die Reverse Transkriptase, und war dafür 1975 im Alter von erst 37 Jahren mit einem Medizinnobelpreis ausgezeichnet worden. Inspiriert von den Perspektiven, die Tonegawa eröffnet hatte, und von der Verfügbarkeit gentechnischer Methoden entschloss er sich im Jahr darauf, einen Schwerpunkt seiner künftigen Arbeit auf die Immunologie zu legen. Wie wenige andere Forscher seiner Generation verstand es Baltimore, brillante junge Wissenschaftler nicht nur um sich zu scharen, sondern ihnen in einer Atmosphäre offenen und intensiven Austauschs auch freien Lauf für die Verwirklichung ihrer eigenen Ideen zu lassen. So fand Alt noch unter der Ägide Baltimores heraus, dass das Enzym TdT einem Zufallsgenerator gleich an den Schnittstellen der zu kombinierenden Gensegmente kurze nicht-codierende DNA-Sequenzen einfügen kann. Durch das Untermischen dieser N-Nukleotide vervielfacht sich die Diversität der in der V(D)J-Lotterie entstehenden Antikörper.

Eine neue Einsicht nach der andern
In seinem eigenen Labor an der New Yorker Columbia University – dessen erster Postdoc übrigens Michael Reth war, der Träger des Paul Ehrlich-und-Ludwig Darmstaedter-Preises 2014 – klärte Alt in den Folgejahren zahlreiche Details der V(D)J-Rekombination auf. Er zeigte, dass Transkriptionsprozesse notwendig sind, um V-Segmente für das genomische Rearrangement überhaupt erst zugänglich zu machen. Er beschrieb, auf welche besondere Weise die Enden der ausgeschnittenen Gensegmente im Zuge der V(D)J-Rekombination miteinander verknüpft werden. Und er wies nach, dass die Gene für variablen Anteile von Antikörpern und von T-Zell-Rezeptoren, die erst 1983 gefunden worden waren, von derselben Rekombinase zusammengesetzt werden . Das war 1986, drei Jahre bevor David Schatz diese Rekombinase entdeckte. Das gelang ihm im Rahmen seiner Doktorarbeit im Labor von David Baltimore .

Die Entdeckung der Schlüsselgene
Zunächst isolierte Schatz das Rekombinations-aktivierende Gen RAG-1 – eine Leistung, die so bedeutend war, dass selbst die New York Times ihr am 22. Dezember 1989 einen ausführlichen Artikel mit dem Titel Key Gene in Immune Defense is believed found widmete. Bald aber stellte sich heraus, dass die Aktivität dieses Gens allein nicht ausreichte, um Rekombinationsvorgänge in heranreifenden B- und T-Zellen zu vollziehen. In einem für genomische Verhältnisse winzigen Abstand von wenigen Kilobasen entdeckten Schatz und Kollegen daraufhin das Gen RAG-2. Erst das gemeinsame Produkt beider Gene, das heterodimere Enzym RAG1/2, ist der Motor der V(D)J-Rekombination. Ohne ihn können keine funktionstüchtigen B- und T-Zellen, kann keine wirksame adaptive Immunabwehr entstehen. Viele Fälle schwerer Immundefizienz werden von Mutationen der RAG-Gene verursacht und manche Lymphome und Leukämien stehen mit Fehlfunktionen dieser Gene in Zusammenhang.

Primär ist RAG1/2 eine Endonuklease, die ausschließlich in heranreifenden B- und T-Lymphozyten den Doppelstrang der DNA an denjenigen Stellen zerschneidet, die von RSS vormarkiert sind. Das Enzym bindet eine RSS und biegt den Doppelstrang so zu sich hin, dass es eine zweite irgendwo darauf liegende RSS, die die 12/23-Regel erfüllt, einfangen kann. Dann vollzieht es zwischen jeder RSS und dem sie flankierenden Gensegment einen Doppelstrangbruch. Als dessen Ergebnis entstehen an den Schnittstellen jeweils zwei asymmetrische Stücke: Auf den Gensegment-Seiten werden die Enden der Einzelstränge haarnadelförmig verschmolzen, auf den Signalsequenzseiten bleiben nur phosphorylierte Stümpfe stehen. Jeder Doppelstrangbruch im Genom ist potenziell eine große Gefahr. Sekundär versichert sich RAG1/2 deshalb umgehend der Hilfe einer internukleären Reparaturwerkstatt, deren Enzyme auf Doppelstrangbrüche spezialisiert sind. Der spezifische non-homologous end-joining (NHEJ)-Stoffwechselweg, auf dem diese Reparaturenzyme zusammenarbeiten, um die von der RAG 1/2-Endonuklease hervorgerufenen Schnittstellen miteinander zu verknüpfen, wurde von Frederick Alt entdeckt . Die Reparaturenzyme öffnen die Haarnadeln und verknüpfen über deren Enden die beiden Gensegmente. Weil die Öffnung zwei Basenbuchstaben neben der Spitze der Nadel erfolgt, ist die Verknüpfung unpräzise, was von Vorteil ist, weil es die Diversität der entstehenden Antikörpergene erhöht. Im weiteren Reparaturprozess werden zudem die oben bereits erwähnten N-Nukleotide eingefügt. Die Signalsequenzseiten werden über ihre schnittstellenabgewandten Seiten dagegen meist präzise miteinander verknüpft und gehen dem Genom anschließend in vielen Fällen verloren.

Eine Schlaufe durch das Zentrum der Rekombination
Die RAG-Enzyme sind keine stationären Moleküle. Sie wandern aber auch nicht ziellos durch den Zellkern junger Lymphozyten, sondern binden sich vorübergehend immer wieder an dynamische Strukturen der Chromatinfäden. Chromatin ist die Struktur, zu der unsere zwei Meter lange DNA zusammen mit kugelförmigen Proteinen wie auf einer Perlenkette so platzsparend aufgewickelt ist, dass sie in den Kern jeder Zelle passt. Durch die Bindung von RAG1/2 an das Chromatin entstehen V(D)J-Rekombinationszentren, in denen ein Chromatin-Scanning stattfindet. Dabei zieht eine Chromatinschlaufe, die mehr als eine Million Basenpaare lang sein kann, durch das Rekombinationszentrum. Die beiden Nadelöhre dieser Schlaufe sind Ringe aus Cohesin, die Knoten, die ihr Durchfädeln stoppen, sind CTCF-Proteine. Wenn sich auf der einen Seite der Schlaufe, die das aktive Zentrum des Enzyms durchläuft, bereits die J-Segmente befinden, zieht nur noch deren andere Seite, auf der sich die D-Segmente befinden, weiter – solange bis beide CTCF-Knoten von außen an den Cohesin-Ringen anstoßen. Das D- und das J-Segment, die sich jetzt im Enzym gegenüberstehen, sind in dieser Runde des Scannings für eine Verknüpfung am besten geeignet, weil das Ausziehen der Schlaufe stockt und Zeit genug für ein sicheres Schneiden und Zusammenfügen vorhanden ist. Dieser loop extrusion-Mechanismus der V(D)J-Rekombination, den Frederick Alt entdeckt hat, gilt auch für die folgende Verknüpfung mit einem V-Segment.

Die zweite Stufe der Vervielfältigung
Die V(D)J-Rekombination genügt freilich nicht, um ausreichend viele Antikörper zur Abwehr von Antigenen herzustellen. Ausschließlich in heranreifenden B-Zellen wird deshalb eine zweite Stufe der Diversifikation gezündet, die sogenannte somatische Hypermutation. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die normale Rate von Punktmutationen, die nur einen Basenbuchstaben betreffen, dort um den Faktor eine Million erhöht wird, wo auf den Chromosomen 2, 14 und 22 V-Segmente für leichte und schwere Ketten vorkommen. Dieses Arrangement führt in einer geringen Zahl von Fällen zur Bildung von Antikörpern mit höherer Affinität für Antigene. Häufiger können daraus Antikörper mit gleichbleibender oder geringerer Affinität resultieren. Der Mutator, der diese millionenfachen Änderungen auslöst, ist das von Tasuku Honjo um die Jahrtausendwende entdeckte Enzym AID, eine Deaminase, die den DNA-Baustein Cytosin in den DNA-Baustein Uracil verwandelt. Frederick Alt war daran beteiligt aufzuklären, auf welchen Wegen dieser Mutator seine molekularen Ziele in den V-Segment-Regionen erreicht. Ähnliche Aufklärungsarbeit leistete er hinsichtlich der Beteiligung von AID beim Klassenwechsel von Antikörpern, die synonym als Immunglobuline (Ig) bezeichnet werden. Initial stellen B-Zellen nämlich nur Igs der Klassen M und D her, die im Zuge der B-Zell-Reifung teilweise in die Klassen A, E oder G wechseln müssen. Alt konnte nachweisen, dass auch bei Klassenwechselreaktionen sowohl der NHEJ-Weg als auch der loop extrusion-Mechanismus eine wichtige Rolle spielen.

Die Integration eines Eindringlings
Die erstaunlichste Eigenschaft von RAG1/2 ist seine Herkunft. Es stammt sehr wahrscheinlich von einem DNA-Parasiten ab, der sich vor Jahrmillionen als eine Art Schmarotzer in das Genom eines unserer sehr frühen Vorfahren eingenistet hat, im weiteren Verlauf der Evolution aber auf so effektive Weise gezähmt wurde, dass er zur wichtigsten Schaltstelle des adaptiven Immunsystems werden konnte. Dieser Genealogie kam David Schatz auf die Spur, als er in Reagenzglasversuchen entdeckte, dass RAG1/2 ein DNA-Fragment ausschneiden und an einer anderen Stelle des Genoms wieder einfügen konnte. Damit war klar, dass das Enzym in vitro Transposase-Aktivität besitzt. Transposasen sind Enzyme, mit deren Hilfe Transposons von einer Stelle des Genoms zu einer anderen zu springen. Transposons sind bewegliche DNA-Abschnitte. Sie machen fast die Hälfte unseres Genoms aus. Meist handelt es sich um harmlose, eigennützige DNA-Parasiten (selfish genes), manchmal aber auch um krankheitsauslösende Elemente. In vivo darf RAG1/2 keinesfalls mehr als aktives Transposon auftreten, sonst würde es unser Genom wie ein unberechenbarer Irrläufer durchstreifen. Um das zu verhindern, hat die Evolution tatsächlich dafür gesorgt, die mögliche Sprengkraft des Enzyms mit Hilfe eines doppelten Eingriffs zu entschärfen: An Position 848 von RAG1 hat sie die hydrophobe Aminosäure Methionin durch das hydrophiles Pendant Arginin ersetzt und in RAG2 eine negativ geladene Spule eingefügt. Dadurch wird unter in vivo-Bedingungen nach den Erkenntnissen von David Schatz das einstige Transposon im Genom fixiert und seine weitere Transposition verhindert.

Eine Revolution in der Evolution
Seine Transposase-Aktivität im Reagenzglas machte es zwar plausibel, dass RAG1/2 ursprünglich ein Transposon war, der Beweis dafür ließ sich aber nicht führen. Das änderte sich, als Schatz und seine Gruppe in dem wirbellosen Lanzettfischchen Amphioxus ein Molekül mit RAG-ähnlichen Eigenschaften untersuchten, offenbar ein Prototyp des Transposons, das irgendwann in das Genom von Wirbeltieren gesprungen ist. Inzwischen sind solche RAG-ähnlichen Transposons in Wirbellosen vielfach nachgewiesen worden, auch im Genom des Baumwollkapselbohrers Helicoverpa zea. Wie dessen Transposase die Transposition vollzieht, hat Schatz jüngst in fast atomarer Auflösung Schritt für Schritt veranschaulicht. Schmetterlingsgleich öffnet und schließt das Enzym seine „Flügel“ dabei in zwei aufeinanderfolgenden Schlägen, als ob es ein Sinnbild für die Schönheit natürlicher Entwicklung geben wolle . Mit diesen Aufnahmen eröffnet Schatz der Wissenschaft einen sensationellen Blick zurück in das Geschehen einer Revolution im Verlauf unserer Evolution: Den Beginn der Ausbildung eines adaptiven Immunsystems in kiefertragenden Wirbeltieren zusätzlich zu der in primitiveren Organismen vorher schon bestehenden angeborenen Immunität. An diesen Blick der Grundlagenforschung anknüpfend, wird die translationale Forschung neue therapeutische Perspektiven für Krankheiten erschließen können, bei denen unser Immunsystem eine entscheidende Rolle spielt.

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