Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Nachwuchspreisträgerin 2022

Zangenangriff über beide Flanken

Die akute lymphatische Leukämie ist die häufigste Krebsart bei Kindern. Während sie früher meist innerhalb weniger Wochen zum Tode führte, lässt sie sich heute in der Mehrzahl der Fälle heilen. Das gilt jedoch nicht, wenn die Leukämiezellen behandlungsresistent werden. Dr. Laura Hinze hat entdeckt, auf welchem Weg sich die Resistenz gegen das Chemotherapeutikum Asparaginase überwinden lässt. Die Einsichten, die sie dabei in intrazelluläre Signalkaskaden gewonnen hat, sind fundamental. Sie eröffnen auch neue Perspektiven für die Behandlung weit verbreiteter solider Tumore wie zum Beispiel Darmkrebs.

Das Enzym Asparaginase katalysiert den Abbau von Asparagin. Leukämiezellen können diese Aminosäure im Gegensatz zu normalen Körperzellen nur begrenzt herstellen, weil sie zu geringe Mengen des Enzyms Asparagin-Synthetase (ASNS) exprimieren. Sie sind auf den Import von Asparagin aus der Blutbahn angewiesen. Die Injektion von Asparaginase senkt den Blutspiegel von Asparagin drastisch. Davon gehen Leukämiezellen zugrunde, während es normalen Körperzellen nicht schadet. Leukämiezellen können jedoch wahrscheinlich lernen, die Expression von ASNS zu erhöhen, um der Behandlung mit Asparaginase zu entgehen. Das war einst der Anlass für Versuche, ihre Resistenz durch den Einsatz von ASNS-Inhibitoren zu überwinden. Das ging aber mit schweren Nebenwirkungen einher. Das Ziel von Laura Hinze und ihrer Arbeitsgruppe war es, andere molekulare Resistenzmechanismen von Asparaginase zu entdecken, die therapeutisch besser zu attackieren sind.

Spurensuche im gesamten Genom

Sie unternahmen zu diesem Zweck ein genomweites CRISPR/Cas9-Screening in einer Kultur resistenter Leukämiezellen. Diese Zellen statteten sie mit der Fähigkeit aus, die bakterielle Genschere Cas9 zu exprimieren. In virale Fähren verpackt, schleusten sie dann 123.411 verschiedene mRNA-Moleküle in die Zellen ein. Wie Adressaufkleber gaben diese Führungs-RNAs den Genscheren an, welche Stellen der Krebszellen-DNA sie ansteuern sollten. Dort setzte jede Schere ihren spezifischen Schnitt. Auf diese Weise schalteten Hinze und ihr Team 19.050 Gene der Leukämiezellen aus. Sie hatten die Koordinaten ihres Experimentes vorher so festgelegt, dass in jede Zelle nur ein viraler Vektor eintritt. Dadurch stellten sie sicher, dass in der gesamten Zellkultur alle Gene ausgeschaltet werden, in jeder einzelnen Zelle aber nur jeweils eines.

Anschließend beobachteten sie, was geschah, wenn sie die Zellen mit Asparaginase behandelten. Als Vergleich diente eine Kultur, die nur mit einer Pufferlösung ohne Wirkstoff versetzt wurde. Erwartungsgemäß starben unter Asparaginase-Behandlung am häufigsten jene Zellen ab, in denen ASNS fehlte. Ihnen war die Fähigkeit zur Resistenz offenbar am stärksten abhandengekommen. Besonders häufig starben aber auch Zellen ab, in denen eines der beiden Gene NKD2 und LGR6 ausgeschaltet worden war. Das deutete im Umkehrschluss darauf hin, dass Leukämiezellen, in denen diese Gene funktionieren, besonders häufig resistent werden. Eine gezielte Ausschaltung dieser beiden Gene durch RNA-Interferenz bestätigte diesen Befund. Beide Gene codieren, das wies Hinze in weiteren Schritten nach, für Inhibitoren des Wnt-Signalweges.

Kontrolle eines Transkriptionsfaktors

Die ersten Wnt-Signalmoleküle waren in den 1980er-Jahren in der onkologischen und embryologischen Forschung entdeckt worden . Sie dienen in erster Linie der Kommunikation zwischen benachbarten Zellen. Sie modellieren Form und Funktion von Zellverbänden und steuern dementsprechend im gesunden Organismus vor allem die Embryonalentwicklung. Später sind sie primär für Reparaturen und Erhaltungsarbeiten im Gewebe zuständig. Beim Menschen sind heute 19 verschiedene Wnt-Botenstoffe bekannt, die ihre Signale über spezifische Membranrezeptoren in das Zellinnere vermitteln. Auf dem wichtigsten Wnt-Signalweg verhindern solche Signale im Cytoplasma den Abbau des Proteins ß-Catenin. Es reichert sich an, wandert in den Zellkern und kurbelt dort als potenter Transkriptionsfaktor die Expression von Wachstumsfaktoren an. Die außerplanmäßige Aktivierung des Wnt-Signalweges begünstigt deshalb die Entstehung von Krebs. Sie kann durch Mutationen von Molekülen des Signalweges verursacht werden.

Die alltägliche Aufgabe von ß-Catenin ist es, mechanisch zur Adhäsion benachbarter Zellen beizutragen. Überschüssige Mengen des Moleküls werden im Cytosol umgehend entsorgt, wenn der Wnt-Signalweg inaktiv ist. Dafür wird ß-Catenin zunächst in eine molekulare Werkstatt gebracht, die aus zwei Gerüstproteinen und zwei Kinasen besteht. Erst wenn beide Kinasen es nacheinander phosphoryliert haben, kann ß-Catenin mit Ubiquitin-Etiketten versehen werden, die es für den Abbau markieren. Die Hauptrolle in dieser molekularen Werkstatt spielt das Enzym Glykogensynthase-Kinase 3 (GSK3).

Ursprünglich als ein Regulator der Synthese von Glykogen entdeckt, gilt GSK3 inzwischen als das vielseitigste aller Enzyme. Es hat in seiner biokatalytischen Arbeit mit mehr als 100 verschiedenen Substraten zu tun und scheint mit jeweils anderem Auftrag in fast allen zellulären Signalwegen aufzutreten. Pathophysiologisch wurde GSK3 zuerst mit Erkrankungen des Zentralen Nervensystems in Verbindung gebracht, so etwa mit der Phosphorylierung des Tau-Proteins bei der Alzheimerschen Krankheit und mit bipolaren Störungen. Lithium, das zu deren Behandlung eingesetzt wird, ist ein GSK3-Inhibitor. Auch als Promotor entzündlicher Erkrankungen wird GSK3 beschrieben. Bei manchen Krebserkrankungen kann es als Tumorsuppressor fungieren, bei anderen das Tumorwachstum fördern. GSK3 kommt in den zwei Isoformen alpha und beta vor.

Abschneiden des Nachschubweges

Bei der akuten lymphatischen Leukämie leitet GSK3 vermutlich die Resistenz gegen eine Behandlung mit Asparaginase ein. Denn nachdem GSK3 die Ubiquitinierung des ß-Catenins vorbereitet hat, wird dieses Protein dem Proteasom zugeführt und dort wie alle Proteine, die der Zelle schaden könnten oder die sie nicht braucht, in kleine Bruchstücke und Aminosäuren zerlegt. Aus dieser Quelle holt sich die Leukämiezelle das Asparagin, das ihr durch die Behandlung mit Asparaginase vorenthalten worden ist. Durch eine partielle Aktivierung des Wnt-Signalweges, die den GSK3-abhängigen Abbau von ß-Catenin blockiert, ohne dessen onkogene Transkriptionssignale zu verstärken, gelang es Hinze, diese Resistenzquelle weitgehend auszutrocknen. Das Signal für diese Form der Aktivierung heißt verwirrenderweise Wnt/STOP, weil es zu einer Stabilization Of Proteins (STOP) führt.

Der Effekt dieses Wnt/STOP-Signals lässt sich auch durch eine Inhibition von GSK3 erreichen, nicht jedoch durch eine Inhibition von GSK3ß, wie Hinze und Kollegen in Zellkulturen eindrucksvoll belegen und im Tierversuch bestätigen konnte. Leukämiekranke Mäuse, die gleichzeitig Asparaginase und GSK3-Inhibitoren erhielten, überlebten sehr viel länger als solche, die nur mit Asparaginase behandelt wurden. „Hinze und ihre Kollegen konnten zum ersten Mal zeigen, dass therapieresistente Leukämiezellen GSK3-abhängigen Proteinkatabolismus als eine alternative Aminosäurequelle brauchen, um den Entzug von Asparagin zu überleben“, schreibt der Stiftungsrat in seiner Würdigung der Preisträgerin. „Die pharmakologische Hemmung von GSK3 führt zu einer Hemmung dieses alternativen Signalweges und damit zu einer Sensitivierung für Asparaginase, was eine vielversprechende therapeutische Strategie ist.“ Anders gesagt: Weder die Hemmung von GSK3 noch die Gabe von Asparaginase allein reichen aus, um die Leukämiezellen dauerhaft zu besiegen, vielmehr entsteht erst aus den zwei Maßnahmen zusammen der Effekt einer synthetischen Letalität – vergleichbar einem Zangenangriff über beide Flanken.

Blaupause für bestimmte solide Tumore

Mutationen auf dem Wnt-Signalweg, die zu dessen Überaktivierung führen, sind besonders typisch für Darmkrebs. Deshalb prüfte Hinze, inwieweit sich ihre Forschungsergebnisse auf diese zweithäufigste aller Krebsarten übertragen lassen. Ihre Ausgangshypothese: Etwa 15 Prozent aller Wnt-Signalwegmutationen liegen bei Darmkrebs stromaufwärts des Enzyms GSK3. Das Enzym ist bei Patienten mit dieser genetischen Signatur also endogen inhibiert. Das Proteasom liefert kein Asparagin mehr. Entzieht man das Asparagin außerdem durch die Gabe von Asparaginase, könnte man die Darmkrebszellen bei dieser Gruppe von Patienten aushungern. Diese Hypothese haben Laura Hinze und ihr Team inzwischen präklinisch belegt – und damit eine überraschende Gemeinsamkeit zwischen Leukämien und Darmkrebs festgestellt. Klinisch könnte dieser Befund schon bald auf seine Wirksamkeit in Patienten überprüft werden. Möglicherweise trifft er auch auf andere solide Tumoren zu, die durch eine Wnt-induzierte endogene Inhibition von GSK3 charakterisiert sind.

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