Verarbeitung von geschriebener und gesprochener Sprache liegen nah beieinander
Beim Lesen bewegt sich der Blick in einem bestimmten Muster über den Text. Dieses Muster ähnelt in überraschendem Maß der Rhythmik gesprochener Sprache, wie ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unter Beteiligung der Goethe-Universität herausgefunden hat. Die Ergebnisse ihrer Forschung erscheinen heute in der Fachzeitschrift „Nature Human Behavior“.
FRANKFURT. Wenn
wir lesen, lassen wir unseren Blick über einen Text wandern. Die Bewegungen der
Augen folgen dabei einer charakteristischen zeitlichen Rhythmik. Ein
internationales Team von Forscherinnen und Forschern mit starker Beteiligung
der Goethe-Universität hat in Blickbewegungsexperimenten und einer Metastudie
mit 14 verschiedenen Sprachen herausgefunden, dass diese zeitliche Struktur des
Lesens nahezu identisch ist mit der dominanten Rhythmik der gesprochenen
Sprache. Daraus lasse sich schließen, dass sich die Verarbeitung von
geschriebener und gesprochener Sprache in einem größeren Maße ähneln als bisher
angenommen. Die Ergebnisse der Forschungen erscheinen in der Fachzeitschrift
„Nature Human Behavior“. Weitere beteiligte Forschungseinrichtungen waren die
Universität Wien, das Ernst Strüngmann Institut Frankfurt, die New York
University, das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik Frankfurt und die
Universität Salzburg.
Sprachen und Schriftsysteme sind zentrale Elemente menschlicher
Kommunikation. Schriftsysteme ermöglichen uns seit Jahrtausenden, Information
nicht nur von Angesicht zu Angesicht zu teilen, sondern sie auch materiell zu
speichern und dauerhaft verfügbar zu machen. „Das Lesen ist eine der
faszinierendsten kulturellen Errungenschaften des Menschen“, sagt Erstautor Dr.
Benjamin Gagl, bis vor kurzem wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für
Psychologie der Goethe-Universität. „Die gesprochene Sprache beeinflusst auch
das Lesen. Bis jetzt ist aber wenig über die gemeinsamen zugrundeliegenden
Mechanismen von Lesen und gesprochener Sprache bekannt“, erklärt Gagl, der von
Haus aus Psychologe ist.
Diese Mechanismen hat Gagl gemeinsam mit einem internationalen
Team unter Leitung von Prof. Christian Fiebach untersucht, indem er die
zeitlichen Strukturen des Lesens mit denen der gesprochenen Sprache verglich.
Dabei zeigte sich, dass die rhythmischen Abläufe der Augenbewegungen beim Lesen
und die dominante Rhythmik im Sprachsignal nahezu identisch sind. Diese
Erkenntnis wirft ein neues Licht auf die Schnittstelle zwischen geschriebener
und gesprochener Sprache.
Für ihre Studie übertrug das Team Methoden der Frequenzanalyse, die
in der Untersuchung des lautlichen Sprachsignals schon breite Verwendung
finden, auf die Untersuchung von Augenbewegungen. Diese Vorgehensweise wurde in
zwei Studien an der Goethe-Universität Frankfurt und einer Studie an der
Universität Salzburg angewandt. Neben einer vergleichbaren Rhythmik von Lesen
und Sprechen zeigte sich bei weniger leseerfahrenen Personen eine direkte
zeitliche Kopplung der Lese- und Sprachprozesse. Geübtere Leserinnen und Leser
hingegen lasen schneller und konnten zwischen zwei Augenbewegungen mehr
Information aus dem Text entnehmen. Zusätzlich erfassten die Autorinnen und
Autoren in einer Metastudie alle in Fachzeitschriften erschienenen
Blickbewegungsstudien des Lesens aus den Jahren 2006 bis 2016 und schätzten für
diese die zeitliche Rhythmik des Lesens für 14 Sprachen und mehrere
Schriftsysteme. Dabei zeigte sich, dass der Leserhythmus bei zeichenbasierten
Schriftsystemen (wie etwa im Chinesischen) langsamer ist, was mit den höheren
Anforderungen an die visuelle Analyse der komplexeren Schriftzeichen erklärt
werden kann.
„Die Ergebnisse zeigen Zusammenhänge zwischen gesprochener und
geschriebener Sprache auf eine neuartige und bisher noch nicht bekannte Art und
Weise“, so Christian Fiebach. „Die Sprachverarbeitungssysteme des menschlichen
Gehirns haben sich im Verlauf der Evolution auf die zeitlichen Abläufe der
gesprochenen Sprache spezialisiert. Wir gehen aufgrund der aktuellen Ergebnisse
davon aus, dass diese Sprachsysteme beim Lesen als eine Art ‚Taktgeber' für die
Augen dienen, damit diese die gelesenen Informationen in einem optimalen
zeitlichen Rhythmus an das Gehirn senden und so die weitere Analyse
erleichtern. Diese Hypothese kann nun mit dem hier vorgestellten methodischen
Ansatz vertieft untersucht werden.“
Publikation: Gagl, B., Gregorova, K., Golch, J., Hawelka, S., Sassenhagen, J., Tavano, A., Poeppel, D. & Fiebach, C. J. (accepted). Eye movements during text reading align with the rate of speech production. Nature Human Behavior. https://www.biorxiv.org/content/10.1101/391896v3.full.pdf
Weitere Informationen
Mag.
Dr. Benjamin Gagl
Universität
Wien
Cognitive
Science Hub & Institut für Sprachwissenschaften
Sensengasse 3a
1090 Wien
benjamin.gagl@univie.ac.at
Prof. Dr. Christian Fiebach
Goethe-Universität
Frankfurt am Main
Institut
für Psychologie
Theodor-W.-Adorno-Platz
6
60323
Frankfurt am Main
fiebach@psych.uni-frankfurt.de